Welche unterschiedlichen Formen der Neutropenie gibt es?
Autor: Dr. med. Cornelia Zeidler, erstellt am: 27.02.2019, Zuletzt geändert: 27.02.2019
Gemäß der Anzahl bestimmter weißer Blutkörperchen (neutrophile Granulozyten, Neutrophile) in einem Tausendstel Liter (Mikroliter, µl) Blut werden bei einer Neutropenie drei Schweregrade unterschieden:
- leichte Neutropenie: 1000 bis 1500 Neutrophile pro µl Blut
- mittelschwere Neutropenie: 500 bis 1000 Neutrophile pro µl Blut
- schwere Neutropenie: weniger als 500 Neutrophile pro µl Blut
Nach der Dauer einer Neutropenie spricht man zusätzlich von folgenden Formen:
- akute Neutropenie: erniedrigte Neutrophilenzahlen für einen kurzen Zeitraum (z. B. bei Neugeborenen)
- transiente Neutropenie: vorübergehende Neutropenie (z. B. bei Virusinfektionen oder nach Einnahme bestimmter Medikamente)
- chronische Neutropenie: Neutropenie, die länger als drei Monate anhält
Der Begriff "schwere chronische Neutropenie" beschreibt eine Gruppe von Erkrankungen, bei denen die Kinder für länger als drei Monate weniger als 500 Neutrophile/µl Blut und häufig Infektionen haben. Eine schwere chronische Neutropenie kann von Geburt an bestehen (angeborene schwere chronische Neutropenie) oder zu jeder Zeit im Laufe des Lebens auftreten (erworbene schwere chronische Neutropenie). Die folgende Liste gibt einige Beispiele für diese verschiedenen Neutropenieformen:
Angeborene Formen der schweren chronischen Neutropenie
Bei den angeborenen Formen der schweren chronischen Neutropenie handelt es sich um seltene Erkrankungen die häufig vererbt werden. Dementsprechend können in einer Familie auch mehrere Familienmitglieder betroffen sein. Mittlerweile sind mehr als 20 Gene bekannt, die eine angeborene Neutropenie verursachen können. Die Neutropenie kann dabei isoliert oder in Verbindung mit weiteren Symptomen auftreten, wie Verminderung anderer Blutzellreihen, aber auch Organfehlbildungen (z. B. Herzfehler, Skelettfehlbildungen etc), Gedeihstörung, Stoffwechselstörungen und Immunphänomenen.
Schwere kongenitale Neutropenie und zyklische Neutropenie (Mutationen im ELANE Gen)
Bei der Mehrzahl (über 50 %) der Patienten mit schwerer kongenitaler Neutropenie sind Mutationen im neutrophilen Elastase-Gen (ELANE) nachweisbar. Sie werden autosomal-dominant vererbt oder treten sporadisch auf. Mutationen im ELANE Gen sind auch bei der Mehrzahl der Patienten mit zyklischer Neutropenie, einer Sonderform der angeborenen Neutropenie, verantwortlich. Bei der zyklischen Neutropenie folgen Anstieg und Abfall der Zahl der neutrophilen Granulozyten einem periodischen Rhythmus. Dieser Zyklus wird durch wechselnde Zellteilungsraten der KnochenmarksStammzellen hervorgerufen. Alle 18 bis 22 Tage kommt es zu einer schweren Neutropenie, die bei manchen Patienten etwa vier bis acht Tage andauert. Die Häufigkeit bakterieller Infektionen steigt dabei mit der Dauer dieser Neutropenie-Perioden an.
Schwere kongenitale Neutropenie (Mutationen im HAX1 Gen)
Das früher sogenannte Kostmann-Syndrom wird dagegen durch autosomal-rezessiv vererbte Mutationen im HAX1-Gen verursacht und findet sich häufig bei konsanguinen Familien, also Familien mit verwandten Eltern, z. B. Cousins (5).
Beide oben genannten Erkrankungen (Neutropenie mit Mutation der Gene ELANE oder HAX1) lassen sich aufgrund klinischer Merkmale nicht unterscheiden. Im Blutbild fehlen neutrophile Granulozyten häufig vollständig, zusätzlich kann eine milde Blutarmut (Anämie: Hämoglobinwert 10–12 g/dl) und eine Erhöhung der Anzahl der Blutplättchen (Thrombozytose, bis etwa 800.000/μl) bestehen. Bei diesen Kindern kommt es bei der Blutbildung im Knochenmark zu einem so genannten "Ausreifungsstopp" für die Vorstufen der weißen Blutzellen. Das bedeutet, dass diese jungen Vorläuferzellen nur selten zu funktionsfähigen neutrophilen Granulozyten ausreifen, die gegen Entzündungen im Körper kämpfen können. In der Folge fehlt es im Blut der meisten Kinder bereits bei der Geburt häufig vollständig an reifen, funktionstüchtigen weißen Blutkörperchen.
Syndrome mit schwerer chronischer Neutropenie
- Bei einigen Kindern fallen neben der Neutropenie ein Minderwuchs oder eine Wachstumsverzögerung, eine Innenohrschwerhöhrigkeit, Herzfehler und/oder Fehlbildungen in der Niere, den ableitenden Harnwegen oder dem Genitalbereich auf. Besonders auffällig sind beispielsweise durchscheinende Unterhautvenen am Körper bei der autosomal-rezessiv vererbten G6PC3-Genmutation.
Stoffwechselerkrankungen mit schwerer chronischer Neutropenie
Manche Kinder leiden an Erkrankungen, bei denen der Zucker- oder der Eiweißstoffwechsel, oder bestimmte Organe wie die Bauchspeicheldrüse nicht richtig funktionieren. Zu diesen vererbbaren Störungen, die regelmäßig auch mit einer schweren chronischen Neutropenie einhergehen, gehören beispielsweise:
Bei fast allen angeborenen Neutropenie-Formen besteht das Risiko, dass bei einem Teil der Betroffenen im Verlauf der Erkrankung eine Entartung der Knochenmarkzellen stattfindet und daraufhin ein Blutkrebs (Leukämie) entsteht. Das individuelle Risiko hängt dabei von vielen Einflussfaktoren ab und sollte mit den Ärzten an einem Zentrum für Bluterkrankungen (Hämatologie) besprochen werden.
Erworbene Formen der schweren chronischen Neutropenie
Zu den erworbenen Erkrankungen, die eine schwere chronische Neutropenie bei Kindern und Jugendlichen auslösen können, gehören die so genannten autoimmunneutropenien. Bei diesen Erkrankungen bildet der Organismus Abwehrstoffe (Antikörper) gegen die eigenen weißen Blutzellen, so dass diese im Blut vermehrt abgebaut werden. Autoimmunneutropenien werden in eine primäre und eine sekundäre Form unterteilt.
Primäre Autoimmunneutropenie
Diese Form ist die häufigste Ursache für eine schwere chronische Neutropenie bei Kindern. Sie tritt am häufigsten bei Säuglingen und Kleinkindern im Alter zwischen 6 Monaten und 4 Jahren auf. Deshalb wird sie auch Autoimmunneutropenie des Kleinkindesalters genannt. Obwohl das Blutbild der Patienten in der Regel nur wenige neutrophile Granulozyten, also eine schwere Neutropenie zeigt, kommen normalerweise keine lebensbedrohlichen Infektionen vor. Die Prognose der Autoimmunneutropenie ist ausgesprochen gut, da die Antikörper meist noch im Kleinkindesalter, spätestens aber im frühen Schulalter spontan wieder verschwinden. Bei keinem der beschriebenen Patienten sind nachfolgende Immunerkrankungen aufgetreten. Eine Therapieindikation ergibt sich ausschließlich bei wiederkehrenden (rezidivierenden) bakteriellen Infektionen und ist unabhängig von den Granulozytenwerten im Blut. Bei der Mehrzahl der Patienten ist keinerlei Therapie erforderlich, da trotz der Neutropenie im Blutbild eine ausreichende Zahl von Granulzytenvorstufen im Knochenmark vorhanden ist und somit eine ausreichende Abwehr bakterieller Infektionen vorliegt.
Bei wiederkehrenden leichten bakteriellen Infektionen reicht deshalb bei der primären Autoimmunneutropenie in der Regel eine Antibiotikaprophylaxe mit Cotrimoxazol aus. Bei den selten auftretenden schwereren Infektionen kann auch eine interventionelle Therapie mit Granulozyten-stimulierender Faktor (G-CSF) hilfreich sein. Diese Therapie ist bei der Autoimmunneutropenie jedoch nur in Ausnahmefällen notwendig.
Ein Anstieg der neutrophilen Granulozyten im Infekt und ein Abfall der Granulozyten im infektfreien Intervall ist typisch für den Verlauf einer Autoimmunneutropenie.
Sekundäre Autoimmunneutropenie
Wenn eine Autoimmunneutropenie im Zusammenhang mit anderen Autoimmunkrankheiten (beispielsweise mit einem Lupus erythematodes) auftritt, wird sie als "sekundär" bezeichnet. Im Gegensatz zur primären Form kann eine sekundäre Autoimmunneutropenie gelegentlich auch bei jungen Erwachsenen (meist zwischen dem 20. und 40. Lebensjahr) auftreten. Hauptsächlich betroffen sind dabei junge Frauen. Die Patienten profitieren neben einer immunologischen Behandlung in der Regel auch von einer niedrig dosierten Granulozyten-stimulierender Faktor (G-CSF) Therapie.