Hämophilie bei Kindern im ersten Lebensjahr

Autor: PD Dr. med. G. Tallen, erstellt am: 10.01.2014, Zuletzt geändert: 01.04.2020

Blutungsrisiko bei der Geburt

In der Neugeborenen- und frühen Säuglingszeit ist das Blutungsrisiko insgesamt gering. Eltern von Kindern in dieser Altersgruppe sollten jedoch über folgende Aspekte Bescheid wissen:

Zum Zeitpunkt der Geburt ist die Erkrankung oft noch nicht bekannt. Das liegt daran, dass die Hämophilie häufig durch eine spontane Veränderung auf der Erbanlage des Gerinnungsfaktors (Spontanmutation) entsteht, und diese Mutation in der betroffenen Familie demnach noch gar nicht vererbt wurde. Auch kann es sein, dass nur entfernte Verwandte des Kindes erkrankt sind, so dass die Eltern bei ihrem Kind nicht mit der Erkrankung rechnen (siehe "Ursachen"). Entsprechend besteht für das betroffene Neugeborene ein großes Blutungsrisiko während der Entbindung. Daher wird empfohlen:

Alle Eltern mit Verwandten mit Hämophilie sollten bei Kinderwunsch eine genetische Beratung in einem Hämophiliezentrum wahrnehmen. Dort können die Risiken, die sich für das Kind ergeben, bestimmt und besprochen, und ebenso auch die möglichen Maßnahmen für eine komplikationslose Entbindung/Geburt veranlasst werden.

Bei unkomplizierten Spontangeburten (das heißt bei Geburten ohne Saugglocke oder ohne Zange) ist nicht unbedingt ein Kaiserschnitt erforderlich. Sind Komplikationen absehbar, wird man jedoch zur Sicherheit des Kindes frühzeitig zum Kaiserschnitt raten. Falls es beim Neugeborenen zu Blutungen kommt, müssen diese umgehend behandelt werden (siehe "Behandlung").

Hemmkörperbildung (Körpereigene Abstoßungsreaktion)

Die Behandlung einer Blutung durch die Gabe von Gerinnungsfaktoren (siehe "Behandlung") kann, besonders in der Neugeborenenperiode, dazu führen, dass das körpereigene Abwehrsystem des Kindes den zugeführten Gerinnungsfaktor als "fremd" erkennt und ihn daraufhin abstößt. Das geschieht durch die Bildung eines bestimmten Eiweißstoffes, des so genannten Hemmkörpers. Dabei handelt es sich um einen vom Patienten gebildeten Antikörper, der den zugeführten „fremden“ Faktor VIII oder IX außer Gefecht setzt und die Behandlung dadurch unwirksam macht.

Um einer Hemmkörperbildung vorzubeugen, werden Neugeborene mit Hämophilie nach einer unkomplizierten Geburt nicht routinemäßig vorbeugend mit Gerinnungsfaktoren behandelt.

Blutungsrisiko nach der Geburt

  • Nabelblutungen sind selten
  • die rituelle Beschneidung im Neugeborenenalter (Zirkumzision) kann zu lebensbedrohlichen Blutungen führen und das Kind müsste entsprechend vorbeugend behandelt werden. Davon ist jedoch aufgrund des erhöhten Hemmkörperrisikos (siehe oben) unbedingt abzuraten.

Blutungsrisiko bei Frühgeburtlichkeit

Durch die Fortschritte in der Frühgeborenenmedizin wird es auch zukünftig immer wieder Frühgeborene mit einer angeborenen Hämophilie geben. Um Hirnblutungen, die bei Frühgeborenen im Allgemeinen ohnehin häufig sind, vorzubeugen, ist bei hämophilen Kinden eine Vorbehandlung mit Gerinnungsfaktor-Ersatz (siehe "Behandlung") und eine gesonderte Überwachung in einem Hämophiliezentrum erforderlich.

Schutzimpfungen

Ab dem 2. Lebensmonat sollten die Kinder entsprechend der jeweils aktuellen Impfempfehlungen geimpft werden. Dabei kann es zu Muskelblutungen nach intramuskulärer Injektion kommen.

Bei Kindern mit bekannter Hämophilie wird unter die Haut (und nicht in den Muskel) geimpft, um Muskeleinblutungen zu vermeiden.

Schutzimpfungen können bei Kindern mit Hämophilie unter Prophylaxe problemlos erfolgen. Sie sollten aber immer – soweit möglich – subkutan (unter die Haut) gespritzt werden. Bei kleineren Säuglingen, die noch keine Prophylaxe haben, treten in der Regel keine großen Blutungen auf, wenn die Impfungen nur subkutan erfolgen. Eine isolierte prophylaktische Gabe von Faktor VIII oder Faktor IX vor einer Impfung (single shot) ist abzulehnen oder zumindest umstritten, da hierdurch das Risiko einer Hemmkörperbildung steigen kann.

Blaue Flecke

In der 2. Hälfte des ersten Lebensjahres („Krabbelalter“), treten bei vielen Kindern mit einer schweren bis mittelschweren Hämophilie (siehe "Krankheitsformen") auffällig viele „blaue Flecke“ (Hämatome) auf. Diese Blutergüsse fallen vor allem dadurch auf, dass sie sehr zahlreich sind, an untypischen Stellen (beispielsweise Bauchhaut) entstehen und oft als Beule zu tasten sind.

Einblutungen in Weichteile und Gelenke treten meist erstmals gegen Ende des ersten Lebensjahres, besonders in Verbindung mit dem Laufenlernen und wegen entsprechend häufiger Stürze auf. Betroffen sind in dieser Altersgruppe in der Regel hauptsächlich die Sprunggelenke. Durch den frühen Beginn einer vorbeugenden Behandlung (siehe "Behandlung") können Gelenkblutungen in der Regel vermieden werden.

Eltern sollten wissen: Die Anzeichen einer ersten Gelenkblutung sind anfangs oft nicht leicht zu erkennen.

Gelenkblutungen

In den Hämophilie-Behandlungszentren können und sollen vor allem in der Anfangszeit Blutungen und Verletzungen von Fachleuten gemeinsam mit den Eltern untersucht und begutachtet werden. Dies führt in der Regel dazu, dass die Eltern rasch lernen, den Schweregrad von Blutungen und die Risiken vor allem nach Stürzen und anderen Unfällen einzuschätzen.